Stoppt die Stigmatisierung: Vorsicht! Toxische Scham!

 

copyright: pathdoc, fotolia
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Der vorherige Artikel über die Gruppe Menschen, die sich nicht traut, auf ihre psychische Not aufmerksam zu machen und daher vielleicht sogar Suizid begeht, führt mich zu dem mächtigsten aller unangenehmen Gefühle: der Scham. Patienten die Scham zu nehmen, ist für gewöhnlich meine erste Aufgabe in der täglichen Praxis, wenn ein Patient neu zu mir kommt. Oft ist diese extrem stark und macht es dem Patienten zunächst unmöglich, sich mit den eigentlichen Themen hinter ihren Symptomen auseinander zu setzen.Aber warum ist Scham das am meisten ‚pathologische‘ Gefühl aller negativ erlebten Gefühle?

Während Gefühle wie Trauer, Wut, Aggression, Verachtung, Ekel, Angst etc. bereits massive Veränderungen im Erleben und im Verhalten der Patienten auslösen, ist Scham ein Gefühl, dass von seiner Wirkung her diesen noch weit überlegen ist: Unerlöst wirkt sie sich ‚hoch toxisch‘ auf die seelische Gesundheit aus. Wenn auch schon Trauer, Wut, Aggression, Verachtung, Ekel, Angst sehr verändernd wirken und auch Gefühle von Ohnmacht, Verzweiflung und Hilflosigkeit stark einschränkend sind: Scham führt die Liste der ungünstigen Gefühle bezüglich der ‚toxischen‘ Wirkung auf die Psyche an!

Um dies zu erklären, möchte ich für belastende Gefühle die dahinter verborgene Botschaft nennen:

So bedeutet z.B. aufkommende

  • Trauer: ‚mir ist etwas passiert, was ich nicht wollte…‘
  • Wut: ‚ich habe nicht das bekommen, was ich wollte…‘
  • Aggression: ‚ich muss mich gegen (…) wehren…‘
  • Angst: ‚ich muss hier weg!‘
  • Schuld: ‚ich habe etwas falsch gemacht…‘

Bei all diesen Gefühlen erkennt das Bewusstsein trotzdem jedoch, dass es potenziell noch Auswege gibt, die den Stress senken könnten:

  • Bei Trauer z.B.: ‚ich muss nächstes Mal verhindern, dass sich ähnliches wiederholt!‘
  • Bei Wut: ‚ich muss aufpassen, dass ich nächstes Mal ‚zu meinem Recht‘ komme!‘
  • Bei Aggression: ‚nächstes Mal werde ich mich (besser) wehren!‘
  • Bei Angst: ‚ich passe besser auf und vermeide es in Zukunft lieber!‘
  • Bei Schuld: ‚nächstes Mal mache ich es richtig (oder besser)!‘

Mit dem unbewussten Erkennen noch potenzieller Auswege entsteht trotz all dieser negativer Gefühle immer noch ein Funken Hoffnung, dass sich die Lage bald ändern bzw. bessern wird – und die Patienten spüren dies daran, dass es ihnen zwischendurch vorübergehend auch mal ein bisschen besser geht…

Bei Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweifelung ist die ‚Pathogenität‘ schon höher:

Denn die dahinter liegenden Botschaften bedeuten:

  • Ohnmacht: ‚ich muss es ertragen, ohne mich wehren (oder fliehen) zu können!‘ oder ‚ich bin machtlos!‘
  • Verzweifelung: ‚es ist aussichtslos!‘ oder ‚es wird sich niemals ändern!‘
  • Hilflosigkeit: ‚es gibt keine Hilfe für mich!‘

Durch die unbewusste Einschätzung, dass es wohl aktuell keinen Ausweg aus der Situation gibt, entsteht Stillstand und Hoffnungslosigkeit. D. h. die Menschen verharren quasi und warten ab, ob sich die Situation irgendwie wieder bessert (…by the way: erinnert Sie das an eine Depression?…)

Aufkommende Scham setzt jedoch in puncto ‚Pathogenität‘ noch eins drauf:

Denn während bei Gefühlen von Trauer, Wut, Aggression usw. zumindest noch Aktionismus in irgendeiner Form stattfindet und Menschen mitunter in einem Zustand der Aussichts- und Hoffnungslosigkeit lange bewegungslos verharren können, setzt Scham dagegen eine Negativ-Spirale in Gang, die zusehends mehr die Identität, die Zugehörigkeit zu den Mitmenschen und die geglaubte Daseinsberechtigung der Betroffenen bedroht:

Denn die verborgene Botschaft hinter der Scham ist: ‚ICH bin falsch!‘ und signalisiert: ‚ändere Dich sofort!‘

Zwar ist die Fähigkeit Scham zu fühlen evolutiv sehr nützlich (führt sie doch dazu, sich in Gruppen durch das Wahrnehmen von persönlichen Schwächen und deren Veränderung besser anpassen zu können, um so einen potenziellen Ausschluss aus der Gruppe zu verhindern und weiterhin deren größeren ‚Überlebensvorteil‘ nutzen zu können), doch wird dieses Gefühl höchst schädlich, wenn eine Selbständerung nicht möglich ist:

Wenn sich nämlich die Scham-auslösenden Parameter der persönlichen oder bewussten Kontrolle entziehen – wie es bei psychischen Symptomen meistens der Fall ist – und der Mensch alleine schon für das bloße Vorhandensein solcher Parameter verurteilt wird (Stigmatisierung!), entwickelt sich eine charakteristische, höchst-ungünstige Gedanken-Spirale, die bis zu Suizid-Fantasien und -handlungen reichen kann. Denn das unbewusste Denken ändert sich dabei in etwa wie folgt:

Wenn ‚ich falsch bin‘ (…nicht genüge…) und mich nicht ändern kann, bin ich eine Belastung für die Gruppe… und wahrscheinlich auch für die ganze Welt…besser wäre, es gäbe mich nicht mehr…

Somit entstehen durch nicht auflösbare Gefühle von großer Scham starke innere Spannungen, die allmählich unerträglich werden:

  • Im fast günstigeren Fall kann diese Spannung dann noch durch  zusätzliche ‚Übersprungs-Syndrome‘ reduziert werden: z.B. indem dann zu den bereits vorhandenen Symptomen noch ein Zwang oder Wahn oder eine Sucht entsteht und damit die Spannung pseudo-gelöst wird.
  • Im schwerwiegenden Fall entstehen jedoch Fantasien und Wünsche von ‚Selbstauflösung‘, um den nicht-lösbaren Scham-Konflikt zu beenden: d.h. es kommt zu passiven Todesfantasien, Todeswünschen, Todessehnsucht oder auch zu selbstschädigendem Verhalten oder aktiv suizidalen Handlungen.

Was bedeutet nun Stigmatisierung für Patienten mit psychischer Erkrankung?

Wenn psychische Erkrankungen oder Symptome stigmatisiert werden, dann fühlen sich Patienten ‚falsch‘ – es entsteht Scham. Die Scham lässt sich jedoch nicht  abbauen, da sich psychische Symptome, wie z.B. Depressionen, Ängste, Zwänge etc. nicht (oder noch nicht) willentlich abstellen oder kontrollieren lassen. Somit sind diese Menschen ihrer Scham hilflos ausgeliefert: sie wirkt sich toxisch aus und leitet zu dem bereits vorhandenen Schwierigkeiten eine ungünstige Entwicklung ein – mit negativen bis potenziell tödlichen Konsequenzen!

Wir alle können also Verantwortung für betroffene Menschen übernehmen und ihnen helfen, dass sich die Lage zumindest nicht verschlimmert, indem wir ihnen Verständnis für ihre psychische Erkrankung entgegenbringen und unvoreingenommen Unterstützung anbieten!

©Nicole Teschner 2015

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Der wohl gewichtigste Grund, warum Stigmatisierung unterbleiben sollte

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Suizide sind ein schwieriges Thema.

Leider suizidieren sich weltweit immer noch zu viele Menschen. Für Hinterbliebene ist jeder Suizid sehr belastend. Denn immer bleibt neben der entstandenen Lücke durch das Fehlen des verstorbenen Menschen auch die Frage nach dem ‚warum hat er/sie das getan?‘ zurück.

Manchmal suizidieren sich Menschen, ohne dass das Umfeld vorher Hinweise bekommt, die ein Eingreifen und Hilfestellung vielleicht noch möglich gemacht hätte. Hier kommt dann zu der Frage nach dem ‚warum‘  auch noch die belastende Frage nach dem: ‚Warum hat er/sie nichts gesagt? Ich  hätte doch helfen wollen/können!‘ hinzu.

Sicherlich haben Suizidenten ganz verschiedene Motive, warum sie sich das Leben nehmen und auf welche Art und Weise sie das tun. Und manche Suizidenten planen ihren Suizid absichtlich so, dass das Umfeld vorher keine Hinweise auf ihre Absichten bekommt –eben damit niemand sie davon abhalten kann.

Doch es gibt auch Suizidenten, die vorher Hinweise geben: Oft ‚nur leise‘, am Rande, unauffällig:

Wenn wir überlegen, warum dies wohl ‚nur leise‘, ‚am Rande‘, ‚unauffällig‘, ‚zaghaft‘ geschieht, finden wir sicherlich auch wieder verschiedene Motive:

Manchmal reicht vielleicht die Kraft bei diesen Menschen einfach nicht mehr aus, um ‚lauter‘ auf ihre drängenden Probleme aufmerksam zu machen. Manchmal könnte es so sein, dass sie sich von ihren schüchternen oder nur noch schwachen Hilferufen sowieso keine Hilfe mehr erhoffen, weil sie in der Vergangenheit genau diese Erfahrung gemacht und inzwischen resigniert haben….

Doch manchmal könnte es auch so sein, dass dieses ‚nur leise Hinweise geben‘ deswegen ‚leise‘ geschieht, weil die Suizidgefährdeten ‚Angst vor Zurückweisung‘, vor ‚belächelt-werden‘, vor ‚sowieso nicht ernst-genommen werden‘ haben…und um ihre eh schon als sehr verfahren erlebte Lage durch die befürchtete Gleichgültigkeit/das  Unverständnis von Mitmenschen nicht noch schlimmer zu machen, versuchen sie eben nur ganz vorsichtig – eben leise! – auf ihre Lage und ihre Verzweifelung aufmerksam zu machen…

Was wäre wohl, wenn wir diesen Menschen – wie klein oder wie groß dieser Anteil auch immer sein mag – das Vertrauen geben könnten, nicht belächelt, nicht stigmatisiert und nicht abgewiesen, sondern ernst genommen und verstanden zu werden, sodass sie ihre Absichten ‚lauter‘ äußern könnten, um Hilfe zu bekommen?

Wie viele Suizide könnten wir in Zukunft wohl einfach dadurch verhindern, dass wir einen allgemein akzeptierten und verstandenen und hilfreichen Boden für psychisch Notleidende bieten?

Dies ist der wohl gewichtigste Grund, warum es absolut notwendig ist, jeden Menschen mit psychischen Erkrankungen und Symptomen ernst zu nehmen und zu verstehen und endlich die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu beenden! Abwertende Bemerkungen sollten stets unterbleiben und ALLE sollten sich bemühen, Betroffenen das Vertrauen zu geben, auch ‚laut‘ auf sich und ihre Probleme aufmerksam machen zu dürfen!

…denn denken Sie immer daran: Sie wissen nie, wer und wie viele ihrer Lieben sich aktuell ebenfalls nicht traut, ‚laut‘ nach Hilfe zu rufen und daher schamhaft schweigt!

©Nicole Teschner, 2015

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Neue Serie: Psychische Erkrankung – stoppt die Stigmatisierung!

Man thinking in small chair
Paul Clarke – photoxpress.com

Ich hatte unlängst eine Diskussion: Mein Gesprächspartner vertrat die Meinung, dass Menschen, die einmal psychisch krank waren auch immer psychisch krank bleiben würden bzw. wieder werden…(nebenbei bemerkt: er ist nicht ‚vom Fach‘, sondern ganz einfach ein Mensch, der sich seine (falsche!) Meinung über Menschen mit psychischen Erkrankungen gebildet hatte…). Ich widersprach ihm sehr und sagte ihm, dass er damit eine große Halbwissenheit zu psychischen Erkrankungen hat, komplett in Schubladen denkt und mit falschen Vorurteilen durchs Leben läuft.

Und auch, wenn ich ihm seine Aussage komplett widerlegen konnte, bin ich doch immer noch geschockt, wie viele Menschen heute noch nicht verstanden haben, dass es nicht nur unfair und gemein ist, Menschen mit psychischen Erkrankungen zu stigmatisieren, sondern auch kontraproduktiven Zusatzstress für diese ohnehin schon sehr belasteten Menschen bedeutet.

Und daher habe ich mich nun entschieden, in den nächsten Wochen hier eine Artikelserie zu veröffentlichen, um das Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern und Betroffenen und Angehörigen zu helfen, ihre Lage als weniger aussichtslos zu betrachten, als Menschen mit derartigen Meinungen sie glauben machen (oder machen wollen).

Ich möchte mit den Artikeln in den nächsten Wochen verdeutlichen, dass

  • niemand den ersten Stein werfen möge…denn keiner ist vor psychischen Erkrankungen gefeit (und zwar auch nicht vor den rein psychisch bedingten psychischen Erkrankungen!)
  • psychische Erkrankungen immer eine oder mehrere Ursachen haben – nur sind diese manchmal nicht so offensichtlich wie in den Fällen bei psychischen Störungen, wo der Arzt eine körperliche Ursache nachweisen und im Idealfall auch beheben kann,
  • es nicht bedeutet, wenn man einmal durch psychische Ursache psychisch erkrankt war, dass das Schicksal damit unheilvoll besiegelt ist und man immer psychisch erkrankt bleiben wird oder immer wieder erkranken muss (eine gute Auf- und Bearbeitung der psychisch bedingten psychischen Störung vorausgesetzt)
  • dass es keinen Grund für Scham bei Betroffenen gibt

Ich hoffe, dass ich einen guten Beitrag damit gegen die immer noch herrschende Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen leisten kann und Diskussionen, wie ich sie führen musste, damit seltener werden!

Ich wünsche mir sehr, dass Sie die kommende Serie fleißig mitlesen werden, viele Erkenntnisse für sich selbst und die Menschen in Ihrer Umgebung sammeln, eine andere Sicht auf psychische Erkrankungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen bekommen werden und die Artikel fleißig verbreiten und teilen werden!

Herzlichst,

Nicole Teschner

 

©Nicole Teschner, 2015

 

 

Wer oder was stresst denn da? Das Wesen des Stresses Teil I

©AlienCat/photoxpress.com

Um das Wesen des Stresses und seinen ungünstigen Einfluss auf unseren Körper zu verstehen, ist zunächst ein Blick in den Aufbau und die Abschnitte unseres Gehirns notwendig.

Unser Gehirn besteht im Wesentlichen aus drei evolutiven Errungenschaften (Teilbereichen oder Schichten), die sich wie eine Zwiebel übereinander anordnen.

Der älteste Teil in unserem Gehirn ist der Hirnstamm. Die dazugehörigen Strukturen liegen – wie auch der Name schon andeutet – ganz im Inneren des Gehirns und stellen den Übergang zum Rückenmark dar. Er ist quasi unser noch vorhandenes Reptiliengehirn. Dieser Teil vermittelt die Aufrechterhaltung eines gleich bleibenden Stoffwechsels (sodass der Kreislauf funktioniert, die Atmung, der Herzschlag, die Verdauung usw.), die Herstellung des Tag-Nacht-Rhythmus, sowie die Reflexe. Einzig mit einem Hirnstamm ausgestattete Lebewesen können auf massive Bedrohung nur durch Totstellen reagieren und hoffen, dass sie vom Gegner – weil angeblich schon tot und daher ungenießbar – verschont bleiben.

Als Neuerung bildete sich dann das limbische System auf der Stufe der Säugetiere hinzu. Dieses liegt über dem Hirnstamm und unter der ‘Neokortex-Mütze’.

Mit der Entwicklung des limbischen Systems erhielten Säugetiere vor langer Zeit als bahnbrechende Neuerung im Stressgeschehen, dass sie auf Bedrohungen mit Kampf oder Flucht als Bewältigungsversuch reagieren konnten. Daher vermittelt dieser Teil des Gehirns die schnelle Bewertung von Situationen und löst damit im Körper aufgrund des festgestellten Bedrohungsgefühls alle nötigen Reaktionen aus.

Der neueste Teil des Gehirns – der Neocortex – entwickelte sich erst mit den Primaten. Der Neocortex umschließt wie eine Mütze die innenliegenden älteren Gehirnabschnitte. Auf dieser Entwicklungsstufe erhielten Tiere wichtige neue Fähigkeiten zur Abwendung langfristiger, existenzieller Lebensbedrohungen, wie Denken, Imagination, Problemlösung, die Bildung und Pflege sozialer Beziehungen sowie die Möglichkeit für Kommunikation.

Die Alarmanlage des Gehirns: Das limbische System

Nun könnte man denken, dass es evolutiv doch sinnvoll gewesen wäre, dem modernsten Teil des Gehirns – also dem Neokortex – auch alle Aufgaben für die Bewältigung von akutem Stress und akuten Bedrohungen anzuvertrauen. Doch das ist keineswegs so. Denn da der Neokortex enorm komplex aufgebaut ist und auch die Verrechnung sehr komplex ist, ist er im Falle einer direkten Bedrohung – wo es auf Geschwindigkeit ankommt – viel zu langsam.  Anders ausgedrückt: wenn wir eine Bedrohung mit dem Neokortex erst lange durchdenken würden, wären wir eher tot als reagiert zu haben. Für die direkte Abwendung einer unmittelbaren Bedrohung ist somit der Neokortex ungeeignet. Um aber langfristig darüber nachzudenken, wie man solche Bedrohungen umgeht oder nachträglich Schadensbegrenzung betreibt o.ä., ist der Neokortex jedoch perfekt!

Somit ist die Notfallzentrale immer noch auf der Stufe der Säugetiere – also im limbischen System – verblieben. Denn dieses reagiert aufgrund des einfacheren Aufbaus und der direkteren Vernetzung sehr viel schneller und kann den Körper schneller aus der Gefahrenzone bringen. Außerdem befindet sich das limbische System quasi im Zentrum des Gehirns und hat damit Zugang zu allen Teilen des Gehirns (auch zu Hirnstamm und Neorkortex).

Doch es hat seinen Preis, dass das limbische System immer noch mit dem Notfallmanagement betraut ist: durch die Abkürzung zwischen Reiz und Reaktion via limbisches System werden körperliche Reaktionen bei Bedrohungen stets ohne Bewertung unseres höheren, bewussten Verstandes (des Neokortex) ausgelöst. Und das führt zuweilen auch zu ausgelösten Notfall-Reaktionen, wenn keine offensichtlichen Bedrohungen mehr vorhanden sind. Dies passiert z.B. wenn das limbische System  aufgrund nur geringfügiger Ähnlichkeiten mit bereits erlebten, (tatsächlich bedrohlichen) Situationen glaubt, es wäre erneut eine Bedrohung vorhanden. Dann kann es vorkommen, dass der Körper wieder mit Angriff (Aggression) oder Flucht (Angst) – d.h. Stress – reagiert und den Körper in den Alarmzustand versetzt, obwohl es faktisch diesmal keine Bedrohung mehr gibt. Dies kann dann zu Angststörungen oder unangemessenen impulsiven Ausbrüchen oder Stress z.B. aufgrund erlebter, bedrohlicher Kindheitserfahrungen führen.

Wenn das limbische System Alarm schlägt

Wenn das limbische System schließlich zu dem Ergebnis gekommen ist, dass eine bedrohliche Situation vorliegt, sendet es über ein Nervengeflecht Impulse aus, die den gesamten Körper für Angriff- oder Fluchtverhalten vorbereiten. Das Nervengeflecht, dass dieses bewirkt nennt man den Sympathikus (der Name erscheint etwas verwirrend, da uns ja die durch dieses System ausgelösten Reaktionen weniger sympathisch erscheinen. Aber das Endergebnis – nämlich der Schutz unseres Lebens – ist dagegen durchaus sympathisch! Vielleicht erklärt das den Namen ;) ).

Es kommt zur Steigerung von Herzfrequenz (Puls) und Atmung (damit mehr Sauerstoff zur Verfügung steht), die Muskulatur wird angespannt, Glukose-Reserven für den erhöhten Bedarf werden bereitgestellt, die Verdauungsaktivität gesenkt (oder aber Darm und Blase können sich auch schneller entleeren,  um mobiler zu werden) und die Libido wird eingeschränkt (da eine Fortpflanzung aktuell eh unnötig ist, wenn nicht einmal klar ist, ob man es gerade selbst überlebt…).

Gelingt die Abwendung der Bedrohung – ganz gleich durch welche Strategie – wird dieses wieder vom limbischen System registriert und das Gegenspieler-Nervengeflecht, der Parasympathikus wird aktiviert.

Dieses sorgt für Entspannung des Körpers: die Atemfrequenz sinkt, die Muskeln erschlaffen, die Verdauungsfähigkeit nimmt wieder zu, die Libido steigt usw. Auch die Herzfrequenz sinkt wieder, bis wieder ein Ruhezustand eingekehrt ist.

Kurzzeitige Bedrohungen lösen also starke Kampf- oder Fluchtreaktionen aus, haben aber keinen längerfristigen schädlichen Effekt auf den Körper, wenn die Bedrohung durch diese Reaktion abgewendet werden kann. Anders ist es, wenn Bedrohungen nicht abzuwenden sind und das Gefühl der Bedrohung anhält. Dann kommt es zur Aktivierung einer Langzeit-Stress-Reaktion. Diese und die Wirkungen auf den Körper werde ich im Folge-Artikel beschreiben.

©Nicole Teschner – 2013

Abschluss ‚Verlorene Kindheit‘: ‚Stopp‘ den gequälten Kinderseelen!

Sie mögen umstritten sein, aber in diesem Song treffen Sido & Bushido den Nerv (oben eine Coverversion):

‚Gib nicht auf‘

handelt von Kindern, die ausgegrenzt, gemobbt, vernachlässigt, anders sind – und deren gequältes Herz schreit:

Kindersorgen, die es heute gibt – Kindersorgen, die es immer schon gab, und die sich bis ins Erwachsenenalter problematisch auswirken können!

Mit diesem Video möchte ich Sie am Abschluss der Serie ‚verlorene Kindheit‘ nochmals teasern, Ihren eigenen Kindheitsnöten achtsam nachzuspüren, um Unverarbeitetes mit all Ihren Erwachsenenkompetenzen von heute integrieren zu können. Denn heute können Sie dies schaffen, weil Sie im Gegensatz zu damals sehr viel stärker sind und viel mehr Möglichkeiten haben und gut für sich selbst sorgen können!

Und ‚Sido & Bushido‘ mögen Sie gleichzeitig an unsere heranwachsene Generationen erinnern: 

Denken Sie daran: Ein einziger ‚wissender Zeuge‘ reicht, um eine Kinderseele zu retten, wenn dieser dem Kind zu verstehen gibt, dass es jemand gibt, der seine Nöte ernst nimmt. Dadurch kann ein Kind sehr viel resilienter werden. Das war es, was Alice Miller in all ihren Büchern immer wieder betont hat: bereits ein wissender Zeuge genügt, um das Weltbild eines geschundenen, gemobbten Kindes nachhaltig positiv zu verändern!

Dieses Video fasst damit meinen Appell an Sie durch die Serie ‚verlorene Kindheit‘ zusammen:

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr eigener ‚wissender Zeuge‘ für eigene, noch ungeheilte Kindheitsnöte werden und auch die Augen offenhalten für schreiende Kinderseelen von heute. Denn es gibt noch viel zu viele davon. (Doch Vorsicht! Sollten Sie etwas derartiges bemerken, sprechen Sie bitte mit professionellen Ansprechpartnern, die dann weitere Schritte unternehmen können. Bitte agieren Sie keineswegs selbst!)

Wenn ich Sie mit dieser Serie für diese zwei Punkte sensibilisieren konnte, dann hat sich meine Ausarbeitung der Serie mehr als gelohnt!

Also:

Tue mir den Gefallen, gib nicht auf,

selbst wenn Du jetzt denkst,

Du kommst nie wieder aus dem Loch hier heraus,

auch wenn es manchmal schwerfällt und du denkst,

das Leben macht keinen Sinn,

guck: die Sonne geht doch wieder auf!

(Sido&Bushido, Gib nicht auf!)

©Nicole Teschner – 2013

(Hinweis: das Urheberrecht auf obiges Video oder die Musik obliegt den Veröffentlichten/Künstlern.)

‚Verlorene Kindheit‘: Buchtipps

Zu den Artikeln der Serie ‚Verlorene Kindheit‘ möchte ich hier noch einige Bücher vorstellen:

1.   Susan Forward: ‚Vergiftete Kindheit‘

Susan Forward ist Psychotherapeutin in den USA und hat mit ihrem Spezialgebiet – Kinder im Erziehungsgefüge der Familie – sehr viel Ansehen dort erlangt.

Sie beschreibt im ersten Teil des Buches kindliche Entwicklungsbeeinträchtigungen, die entstehen, wenn sie als Kinder perfektionistischer, alkoholabhängiger, vernachlässigender, kontrollierender, verbal-/ körperlich-/psychisch- oder auch sexuell-missbrauchender Eltern aufwachsen und schildert in vielen Fallbeispielen, welchen Einfluss diese Ereignisse noch im Erwachsenenleben haben.

Im zweiten Teil gibt sie Schritt-für-Schritt Anleitungen, wie man solche immer noch als Erwachsener vorhandenen ‚Teufelskreise‘ durchbrechen und die Wunden heilen lassen kann.

Für mich ein sehr gutes Buch, dass ich jedem empfehle, der das Gefühl hat, dass so einiges in der Kindheit schief gelaufen ist.

Lesen Sie dieses Buch bitte nur dann, wenn Sie Zeit zum Nachspüren für sich haben – und es evtl. nicht stört, wenn Sie die eine oder andere Träne vergießen…

Buchansicht

2.   Marie-France Hirigoyen: ‚Die Masken der Niedertracht‘

Marie-France Hirigoyen ist Psychoanalytikerin und Familientherapeutin in Paris. Sie studierte Medizin und Viktimologie und widmet sich in diesem Buch den schwierig dingfest machbaren ’narzisstisch Perversen‘ und ihren subtilen Vorgehensweisen gegenüber ihren Opfern.

Narzissten haben ihren Wirkungskreis überall: in der Partnerschaft, auf der Arbeit oder als Eltern und hinterlassen hinter sich eine Spur ‚psychischer Leichen‘. Die Autorin zeichnet das bewusste Handeln des Narzissten anhand konkreter Fallbeispiele nach und gibt eine ausführliche Beschreibung, wie es Narzissten gelingt, andere Menschen zu unterjochen, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst werden. Sie zeigt die Formen des Verhaltens und die Kommunikationsfallstricke auf, die Narzissten verwenden, um das Gegenüber quasi schwindelig zu reden und damit in ihre Gewalt zu bringen. Sie durchleuchtet die Täter-Opfer-Beziehungen und die Folgen einer narzisstischen Beherrschung für die Opfer. Am Ende beschreibt sie Möglichkeiten, wie sich Opfer von den seelischen Leiden im Kontext der Familie, in der Partnerschaft oder im Unternehmen befreien können.

Aus dem Klappentext:

Es ist schwer, sich gegen eine Gewalt zu wehren, die weder greifbar noch beweisbar ist und die doch verletzt. Seelische Gewalt erniedrigt, nimmt die Selbstachtung, macht hilflos. Den Tätern dient sie dazu, ihr eigenes Ego zu erhöhen und ihre Gier nach Anerkennung und Bewunderung zu befriedigen.

Aus dem Text zusammengetragen:

Die Schwierigkeit klinischer Beschreibung (des narzisstisch Perversen, Anm.) wurzelt in dem Umstand, dass jedes Wort, jede Intonation, jede Anspielung von Bedeutung ist. Alle Einzelheiten erscheinen für sich genommen harmlos, doch in ihrer Gesamtheit setzen sie einen zerstörerischen Prozess in Gang. […] So gibt es Individuen, die auf ihrer Bahn Leichen oder vielmehr lebende Leichen zurücklassen. Das hindert sie nicht daran, anderen Sand in die Augen zu streuen und gesellschaftlich völlig angepasst zu erscheinen.

[…] Die Aggressionen sind subtil, es gibt keine greifbaren Spuren, und die Zeugen neigen dazu, es als schlichte konfliktbeladene oder leidenschaftliche Beziehung zwíschen zwei Personen mit schwierigem Charakter zu deuten, was in Wahrheit ein gewalttätiger Versuch von seelischer, ja sogar körperlicher Vernichtung des anderen ist, der manchmal gelingt. […] und die Opfer erst im Laufe der Zeit lernen, den perversen Umgang zu erkennen, sich zu wehren und Beweise zusammenzutragen.

[…] Die narzisstische Verführung verwirrt und verwischt die Grenzen zwischen dem was eigen, und dem, was sonstig ist. […] es ist Einverleibung – mit dem Ziel zu zerstören. Denn die Gegenwart des anderen wird als Bedrohung erlebt, nicht als Ergänzung. Die Beeinflussung besteht darin, jemanden, ohne zu argumentieren, dahin zu bringen, dass er anders denkt, entscheidet oder sich benimmt, als er es aus eigenem Antrieb getan hätte. […] Die Beeinflussung kann soweit gehen, dass der andere nicht mehr seine eigenen Gedanken denkt, wie bei einer echten Gehirnwäsche. […] Das Opfer ist in einem Spinnennetz gefangen, zur Verfügung gehalten, psychologisch gefesselt, betäubt. Ihm ist oft nicht einmal bewusst, dass ein Übergriff stattgefunden hat.

Fazit:

Für Menschen, die in einer vermutlich narzisstisch-geprägten Beziehung sind oder waren und das Gefühl von Unterjochung hatten oder haben, aber nicht einmal konkret sagen könnten, warum, ein absolutes Lesemuss!

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3.   Ingrid Müller-Münch: Die geprügelte Generation

Ingrid-Müller Münch lässt Erwachsene zu Wort kommen, die ‚einschlägige‘ Erfahrungen mit Ihren Eltern haben und in den 50er und 60er Jahren geboren sind. Sie zeichnet dadurch nach, warum geschlagen wurde, wie es war, warum es so war, warum es als ’normal‘ angesehen wurde und wie sich dieser Trend allmählich verändert.

Fazit:

Um über sich selbst zu reflektieren und eigene Erfahrungen wieder ‚auszugraben‘ und zu erkennen: ‚ja, genau so war es auch bei mir!‘, ist dieses Buch sehr zu empfehlen.

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4.   Alice Miller: eine ganze Sammlung

Der rote Faden, der sich durch alle Bücher von Alice Miller zieht, ist, dass sich Gewalterfahrungen, die durch Schläge in der Kindheit gemacht wurden, sich einen Weg nach außen suchen: in Form körperlicher Probleme oder in Form der Weitergabe neuer Gewalt. Dazu hat sie zahlreiche Biografien studiert und belegt an diesen ihre Gedankenansätze.

Ein Fazit, dass in all ihren Büchern zu finden ist, ist: nur ein wissender Zeuge genügt, um das Leid einer gequälten Kinderseele zu senken: Ein wissender Zeuge gibt dem Kind zu verstehen, dass es Unrecht ist, was ihm widerfährt oder widerfahren ist. Dann kann es Kindern gelingen, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Fehlt ein wissender Zeuge, führt dies dazu, dass erlebte Gewalt in der Kindheit bei stark despotischen Erwachsenen endet. Auch dies belegt sie an gut recherhierten Beispielen. Und sehr wichtig ist es damit, zu seinem eigenen wissenden Zeuge zu werden und die Verleugnung der erhaltenen Gewalt aufzugeben. Denn nicht-Fühlen der Schmach führt zu langanhaltenen körperlichen Problemen.

Ihre Bücher setzen unterschiedliche Schwerpunkte:

‚Die Revolte des Körpers‘ beschreibt die Formen körperlicher Antworten auf die nicht-gelebten destruktiven Emotionen der erfahrenen frühkindlichen Gewalt, Manipulationen oder Quälereien.

In ‚Das Drama des begabten Kindes‘ beschreibt sie Beispiele, wie Kinder ihre Individualität früh in der Kindheit aufgrund der Anpassung an Elternwünsche und -bedürfnisse aufgeben und die Schwierigkeiten, zum eigenen/eigentlichen Ich zurückzufinden.

‚Am Anfang war Erziehung‘ zeigt, wie sich Kinder mit Gewalterfahrungen und schwarzer Pädagogik entwickeln und dass dies zu Drogenabhängigkeit, Austeilen von erneuter Gewalt u. ä. führen kann.

In ‚Du sollst nicht merken‘ setzt sie sich mit dem immer noch stark vorhandenem gesellschaftlichen No-Go auseinander, elterliche Gewalt und deren Fehler schonungslos beim Namen zu nennen – sowohl bei Betroffenen als auch bei Therapeuten.

In ‚Verbanntes Wissen‘ zeigt sie die Defizite verschiedener therapeutischer Schulen auf, die die schmerzlichen Erfahrungen keineswegs empathisch auch als schmerzliche Erfahrungen ihren Klienten eingestehen und zugestehen. Hier erfolgt z.B. Kritik an der neutralen, wertfreien Therapieform der Psychoanalyse, die dem gequältem Kind auch häufig noch einen eigenen, schuldhaften Anteil attestiert.

‚Der gemiedene Schlüssel‘ sind biografische Analysen zu ihren Thesen anhand von Nietsche, Picasso, Käthe Kollwitz, Buster Keaton und weiteren.

‚Abbruch der Schweigemauer‘ beschreibt die Ausbeutung der Abhängigkeit und Liebesbedürftigkeit von Kindern unter dem Deckmantel Erziehung am Beispiel Nicolas Ceausescus.

‚Evas Erwachen‘ zeigt die Ausmaße frühkindlicher Gewalt auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns und warum sämtliche Erfahrungen im Körpergedächtnis gespeichert bleiben und zu körperlichen Problemen führen – auch wenn unser Bewusstsein die Erfahrungen leugnet.

Fazit:

Alice Millers Bücher sind ein leidenschaftliches Plädoyer für den Mut zur eigenen Wahrheit und Empörung über die in der Kindheit erlittene Schmach durch schwerwiegende Erziehungsfehler und eine Absage an jegliche Form der schwarzen Pädagogik, die nur neues Leid durch Weitergabe erzeugt. Zur Reflektion einer schwierigen Kindheit und Aufgabe der eigenen Verleugnung absolut lesens- und lohnenswert!

Buchansichten

5.   Trauma-Literatur:

Da ich empfehle, sich für eine Traumbearbeitung fachlich versierte Therapeuten zu suchen, möchte ich hier nur kurz der Vollständigkeit halber auf die unterstützenden Trauma-Bücher von Christiane Sautter und Peter A. Levine hinweisen. Diese können als begleitende Bücher einer Therapie sehr gut genutzt werden, sollten aber auf keinen Fall eine Therapie ersetzen!

Buchansichten

©Nicole Teschner 2013

Foto: ©Bluefern photoxpress.com

Verlorene Kindheit: Kindheitstraumen und deren Folgen

Ein Trauma wird durch eine extreme – seelisch und körperlich nicht aushaltbare – Schmerzsituation ausgelöst, der man hoffnungslos ohne Fluchtchance ausgeliefert ist.

Während bei Erwachsenen die auslösenden Ereignisse meist stärkerer Art sein müssen (wie bei Unfällen, Verbrechen, Katastrophen, Folter) reichen bei Kindern neben schwerwiegenden körperlichen oder sexuellen Missbrauchserfahrungen oft auch schon ‚sehr viel geringere‘ Anlässe, um ebenfalls traumatisiert zu werden:  so z.B. im Säuglings- und Kleinkindalter ein Alleinlassen oder Vernachlässigung, anhaltende Ruhigstellung, extrem heißen oder kalten Temperaturen ausgesetzt sein, plötzliche, laute Geräusche oder auch Geburtsstress (dieser kann sowohl für Mutter und Kind traumatisch sein).

Bei etwa sieben bis fünfzehn Prozent der Kinder unseres Landes war beziehungsweise ist das Erleben einer  solchen Traumasituation eine Erfahrung, die sich im Alltag abgespielt hat (Bauer).

Während der Traumaentstehung durchläuft der Mensch schmerzhafte Erfahrungen auf zwei Ebenen:

  • Auf der Ebene des Körpers
  • Auf der Ebene der Seele

Diese werden im Gehirn in verschiedenen Bereichen registriert. Ich möchte hier die Reaktion des Gehirns auf den unerträglichen seelischen Schmerz – und wie es schließlich zu den typischen Traumasymptomen kommt – näher beschreiben :

Um eine traumatische Situation überhaupt ertragen zu können, hilft sich das Gehirn mit einem Notfallmechanismus, der das emotionale/seelische Überleben in der unausweichlichen Situation ermöglicht: die Teile des Gehirns, die für die Wahrnehmung des seelischen und emotionalen Schmerzes zuständig sind (Amygdala und Gyrus cinguli), werden quasi abgeschaltet. Dies funktioniert durch die massenhafte Bildung schmerzstillender und betäubender Substanzen in diesen Bereichen durch diese Bereiche selbst (es werden endogene Opioide und Endorphine gebildet). In der Folge nimmt das Gehirn keinen emotionalen/seelischen Schmerz wahr. Und da diese Bereiche im Normalfall das Selbstgefühl vermitteln, wird also das, was wir als unser Selbst erleben, in der Traumasituation abgetrennt.

Das Ergebnis ist, dass die (körperlichen) Erfahrungen quasi abgetrennt vom Ich erlebt werden. Und dies bezeichnet man als Dissoziation.

Bei leichten Formen der Dissoziation entsteht das Gefühl, nicht mehr gut im Kontakt mit dem eigenen Körper zu stehen. Bei schweren Formen der Dissoziation gibt es meist keinen Kontakt mehr zum eigenen Körper, es treten Lähmungs- oder Teillähmungserscheinungen auf, das Gefühl innerlich leer zu sein, keinen emotionalen Kontakt zu Mitmenschen zu haben (bei gleichzeitig starken Einsamkeitsgefühlen), Taubheitsgefühle.

Die schwersten Formen traumatisch bedingter Dissoziationen können sogar zur Abspaltung eigener Persönlichkeiten führen (nach wiederholten Schwersttraumatisierungen). Dies kann zur Bildung der dissoziativen Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung) führen.

Dissoziative Phänomene sind also das Kernsymptom traumatischer Erfahrungen. Sie sind ein zentrales Symptom bei der Borderline-Störung, treten bei Essstörungen und auch bei anderen Erkrankungsbildern auf. Begleiterkrankungen sind Depressionen, Angststörungen, Flashbacks, Albträume, erhöhte Stresslabilität.

Die Schwierigkeit an einmal erlebten Traumen besteht darin, dass das Gehirn derart sensibilisiert ist, sodass fortan kleinste Ähnlichkeiten von Alltagssituationen oder Personen zur Erinnerung an die traumatische Erfahrung reichen und es somit immer wieder und immer schneller zum Auftreten der dissoziativen Phänomene kommt, die die Lebensqualität enorm herabsetzen.

Die Bearbeitung erlebter Traumen ruft häufig erneut die enorm schmerzhaften Erinnerungen hervor – mit den begleitenden Einschränkungen durch die Dissoziation. Daher  müssen erlittene Traumatisierungen auf jeden Fall über einem längeren Zeitraum mit kundigen Trauma-Therapeuten bearbeitet werden, um die aktuelle Gesundheitsproblematik zu verbessern. Hier ist Selbsthilfe eher schädigend. Ich empfehle dringend, sich Therapeuten anzuvertrauen, die auf diesem Gebiet versiert sind! Stichworte für die Suche geeigneter Traumatherapeuten sind z.B. EMDR, Somatic experience®, wingwave u.a.

©Nicole Teschner – 2013

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Verlorene Kindheit: Das gestrafte Kind – körperliche Folgen als Erwachsene

Nach dem psychischen Missbrauch, den Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung  anderen Menschen oder sogar Kindern antun oder angetan haben, möchte ich das Thema körperliche Misshandlung und Bestrafung in der Kindheit aufgreifen.

Eine ganze Generation Kinder ist Opfer der ‚schwarzen Pädagogik‘ geworden.

Die schwarze Pädagogik sah vor, dass man Kinder durch körperliche Züchtigungen erziehen solle, weil sie es bräuchten und sonst nicht ordentlich heranwüchsen – eine Philosophie auf der Basis von Luthers Lehren und dem vierten Gebot ‚du sollst Vater und Mutter ehren‘. Erst im Verlauf der 70er und 80er Jahre ist immer mehr erkannt worden, dass das körperliche Erziehen doch schädlich auf die Psyche der Kinder ist und es hat sich in der Pädagogik seither viel verbessert.

Das heißt, dass viele – wenn nicht die meisten – der heute um die 40, 50 oder 60-jährigen Rohrstock, Teppichklopfer, Kleiderbügel, Kochlöffel, schlagende Hände o.ä. in anderer Funktion als ursprünglich geplant in unangenehmer Erinnerung haben dürften. Oder anders formuliert: die Ausnahme war ein Aufwachsen ohne Körperstrafe.

Erst ab dem Jahr 2000 haben Kinder laut BGB §1631 – dem ‚Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung‘ das ausdrückliche Recht auf gewaltfreie Erziehung: ‚Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig‘ (vgl. Wikipedia).

Körperliche Konsequenzen

Eine ganze Generation kennt also die Prügelstrafe, die Unvorhersehbarkeit von Bindungspersonen und die Unsicherheit, die das häusliche Umfeld damit erzeugt hat. Und das hat weitreichende körperliche Konsequenzen bis ins Erwachsenenalter hinein:

Wie aktuelle Unteruchungen zeigen, hängen frühkindliche Missbrauchserfahrung (hier bezogen auf die rein körperlichen!) eng mit der Entstehung von Depressionen, Angsterkrankungen und Angstsymptomen, plötzlich auftauchenden Schreckensbildern, Borderline-Störungen und Essstörungen  zusammen. Auch das ‚bloße‘ Miterleben häuslicher Gewalt hat ähnliche Effekte und führt zu stressbedingten Erkrankungen.

Kinder erleben Erfahrungen eher traumatisch als Erwachsene

Das kindliche Gehirn ist sehr anfällig für die Entwicklung Misshandlungs-bedingter Spätfolgen. Während bei Erwachsenen eher schwerwiegende Ereignisse eintreten müssen, damit es zu schwerwiegenden Veränderungen des Gehirns kommt, reichen bei Kindern auch weniger bedrohliche Ereignisse, um zu solchen Veränderungen zu führen (z.B. mangelnder Körperkontakt von Neugeborenen), weil das frühkindliche Gehirn enorm plastisch ist und es damit stressanfälliger ist. Und diese ‚Stresserfahrung‘ wird damit quasi in das Gehirn ‚eingebrannt‘.

Je eher solche Erfahrungen gemacht werden, desto stärker ist die Wahrscheinlichkeit einer starken ‚Ver-Formung‘ der Gehirnarchitektur, weil die Neuroplastizität ihren Höhepunkt bei ca. einem Lebensjahr hat und danach stetig geringer wird.

Wenn solche Erfahrungen sogar gemacht werden, bevor die Sprachentwicklung stattgefunden hat, dann bleiben damit verbundene Emotionen im Gedächtnis gespeichert, aber die Erinnerung dazu kann niemals in Worte gefasst werden, weil dazu die Sprachentwicklung nötig ist. Damit ‚gibt es zwar die Gefühle und die Emotionen, nicht aber die Worte für die Erinnerung, die sie formten‘ (Daniel Goleman). Solche frühkindlichen Erfahrungen, die später nicht unmittelbar dem Bewusstsein zugänglich zu machen sind, haben damit das Potenzial, zu Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenendasein zu führen, ohne dass ein Erinnerungszusammenhang hergestellt werden könnte.

Doch was, wenn Sie bei sich solche Zusammenhänge erkennen?

Auf gar keinen Fall sollten Sie nun Massen-Privatgerichte hervorrufen, wo Sie als Erwachsene jetzt anfangen ihre (vielleicht noch lebenden) Eltern für aktuelle gesundheitliche Schwierigkeiten zur Rechenschaft zu ziehen. Denn ein ‚zur Rede stellen‘ der Eltern ist erst einmal gar nicht notwendig. Außerdem werden diese in den wenigsten Fällen ‚zugeben‘ – geschweige denn sich entschuldigen -, dass Sie damals etwas Falsches getan haben, weil Sie unter anderen Voraussetzungen und Vorstellungen aufgewachsen sind und demgemäß gehandelt haben und es ihnen oft sogar richtig erschien.

Ihre Aufgabe ist es, erst einmal solche Zusammehänge zu erkennen und zu begreifen, dass körperliche Strafen, Schikanen, Beschämungen in Ihrer Kindheit in Zusammenhang mit aktuellen Problemen stehen könnten. Und danach sollten Sie sich daran machen, diese Themen und die Zusammenhänge zu bearbeiten und ‚aufzulösen“, so dass sie Ihnen keine weiteren Schwierigkeiten mehr bereiten werden. Und dafür gibt es viele gute Möglichkeiten und Strategien.

©Nicole Teschner – 2013

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